Unter (deutschen) Trainern und Coaches ist die Übung mit systemischen Dreiecken recht bekannt: sie dient der anschaulichen Demonstration der Funktionsweise eines sozialen Systems. Dabei sollen Gruppenteilnehmer, die frei in einem Raum stehen, sich so aufstellen, dass jeder von ihnen mit jeweils zwei anderen ein gleichschenkeliges Dreieck bildet. Die Größe - beliebig. Zunächst kann einer der Teilnehmer gebeten werden, die Aufstellung zu übernehmen: Zumeist scheitert das Vorhaben. Danach werden alle Teilnehmer gebeten, sich in der Gruppe unbemerkt zwei Partner auszusuchen und mit ihnen ein gleichschenkeliges Dreieck zu bilden. Bedingung: Keine Absprachen, am Ende sollen alle in einem passenden Dreieck stehen. Schwierigkeit dabei: Meine beiden heimlich ausgewählten Partner wissen nichts von meiner Wahl und haben sich höchstwahrscheinlich jemand anders für ihr Dreieck ausgesucht. Das ergibt viel Bewegung, da jeder immer wieder versucht, die fragile "Dreiecks-Gleichschenkligkeit" herzustellen. Bis sich das System "gefunden" hat, braucht es Raum. Und Zeit. Aber meistens kommt die Gruppe zu einem Ergebnis.
Die Übung funktioniert zumeist viel effizienter, wenn die Gruppe sich selbst organisiert und nicht durch eine gewählte "Führungskraft"aufgestellt wird.
Bei der anschließenden Auswertung werden die Teilnehmer eingeladen, Beziehungen zwischen den gerade gemachten Erfahrungen und ihrer Arbeits-Realität herzustellen. Dabei sind viele Interpretationen möglich. Ein ukrainischer Top-Manager hat beispielsweise für sich mitgenommen, dass er als Chef viel besser dran tut, das "System" zu beobachten, seine inneren Gesetze zu erfassen und erst dann gezielt einzugreifen um bessere Ergebnisse zu erzielen. Passt recht gut zu dem "Bedeutungsfeld" der Übung, das ich den Teilnehmern dabei aufzeigen möchte. Auch sonst dient die Übung als eine gute Metapher für unsere Organisation als soziale Wesen, weswegen ich sie immer wieder mal gern in meinen Trainings und Workshops verwende.
Ganz anders lief das Dreiecks-Experiment in einer chinesischen Gruppe - es waren Hochschul-Dozenten. Zunächst sollte eine Freiwillige es in Allein-Regie versuchen, die 20 Teilnehmer in gleichschenkelige Dreiecke aufzustellen, danach wollte ich wie immer die Kraft der Selbst-Organisation demonstrieren, aber nach einer kurzen Überlegungszeit und einer knappen Anweisung auf Chinesisch stand die Gruppe in weniger als 2 Minuten stramm in geordneten Reihen und hat die Bedingung der Gleichschenkeligkeit perfekt erfüllt - wie auf dem Bild oben rechts. Die Chinesen schauen ihre Trainerin mit neugierigen Augen an: "Na und? Wo ist das Problem?" Die Trainerin ist verblüfft. Die Kraft der Selbstorganisation kann nicht mehr verdeutlicht werden.
Dennoch lasse ich die chinesische Gruppe die Übung weiter so machen "wie sie eigentlich gedacht ist". Aber die Selbstorganisation der Gruppe dauert lange und sie ist bei Weitem nicht mehr so effizient. Einzig die Frage nach dem emotionalen Befinden bringt einen kleinen Effekt: sich frei seine "Dreiecks-Partner" auszusuchen und die eigene Position zu bestimmen, fühlt sich irgendwie besser an.
Die Chinesen sind mir als gebürtigen Russin mit einer fast komplett deutschen Berufssozialisation - wahrscheinlich wie vielen Europäern - immer wieder ein spannendes Rätsel. Die Trainerin fühlt sich recht unwohl, wenn der gewünschte Effekt nicht funktioniert, erst recht wenn die Teilnehmer den Spieß umzudrehen scheinen. Und doch bleibt mir diese Erfahrung als eine perfekte Metapher für Situationen, die einen an den Rand des eigenen Weltbildes bringen. Man erkennt, dass die "Gesetze des eigenen Dorfes" doch nicht universell sind, und jegliche Wahrheit auf den Elefanten und der Schildkröte der eigenen irrationalen kulturellen Annahmen steht.
Eine solche Erfahrung bringt einen dazu, die Grundannahmen zu hinterfragen: Kann ich rational auf der Effizienz der selbstorganisierte Systeme bestehen - oder gibt es da etwas, woran ich schlicht und einfach glaube? Unter welchen Umständen kann ich mir als Trainerin sicher sein über die Effekte und Folgen meines Tuns? Und: Wie sieht die Welt sonst von dem Punkt aus, wo gleichschenkelige Dreiecke "chinesisch" gebildet werden?
10.07.2021