"How do you like the idea?"​ - "High Context"​ & Feedback

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Vor ein paar Wochen machte dieses Bild in den russischen sozialen Medien die Runde. Herzlich gelacht, habe ich es in meiner Trainings-Bildergalerie gespeichert als eine Illustration für die kulturelle Dimension der so genannten "High Context Communication". Nach Edward T. Hall bezeichnet sie kulturelle Unterschiede in der kontextbezogenen Kommunikation. Vereinfacht gesagt, unterscheiden sich die nationalen Kulturen dieser Erde unter anderem dadurch, wie explizit und direkt sie kommunizieren bzw. wie viel nicht direkt ausgesprochenes Kontextwissen man braucht, um eine Nachricht richtig zu dechiffrieren. Demnach lassen sich Kulturen auf einer Skala von "low context cultures" bis zu "high context cultures" platzieren. Generell zählt Deutschland zu den (wenigen) Ländern der Welt mit einer recht ausgeprägten "low context"-Kommunikationskultur. Wir sind weltweit als recht direkt bekannt, und Vertreter anderer Kulturen suchen oft vergeblich nach zusätzlichem Sinn zwischen unseren geschriebenen und gesprochenen Zeilen. 

Bei Witzen und Karikaturen lässt sich dieses Phänomen besonders gut illustrieren, und für Vertreter russischsprachiger "high context cultures" braucht es für mich in der Regel nur einen kleinen Wink – ein Bild, ein Zitat, einen Spruch, – um diesen Begriff zu vermitteln. Bei diesem Bild können diejenigen herzlich lachen, die als Kinder das Märchen von dem „Koschtschei den Todeslosen“ bzw. dem „Unsterblichen“ vorgelesen bekommen haben. Allen anderen verrät z.B. die deutsche Wikipedia den Unsterblichkeitstrick der skelettartigen Märchengestalt: Die Seele außerhalb des Körpers aufzubewahren. Und zwar ist Koschtscheis Seele – und damit sein Tod – "in einer Nadel versteckt, welche sich in einem Ei befindet, welches in einer Ente ist, die wiederum in einem Hasen steckt, der in einer eisernen Kiste sitzt, die unter einer Eiche auf der Insel Bujan vergraben liegt, welche weit draußen im Meer liegt." Der Sieg über Koschtschei ist eine echte Helden-Aufgabe: Kiste ausgraben, den schnellen Hasen erlegen, die fliegende Ente erschießen, das Ei entnehmen, die Nadel herausnehmen und zerbrechen. – Nun kann man, mit etwas Phantasie, die Mienen des Hasen und der Ente bei der Frage der seltsamen skelettartigen Gestalt einigermaßen nachvollziehen. Zum Lachen reicht es aber wohl nicht mehr: der Kontext ist nun eingiermaßen verständlich, aber es war zu viel Erklärung nötig. 

"High context" ist also dazu da, Informationen blitzschnell zu übermitteln - aber auch dafür, "die eigenen Leute" zu identifizieren. Einer der Gründe übrigens, warum in der Sowjetunion des 20. Jahrhunderts viele verbotene Bücher in "beflügelte Worte" zerfetzt und als "Passwörter" benutzt wurden, um politisch Gleichgesinnte schnell und unauffällig zu identifizieren: Hast du es gelesen – zeigst du eine Reaktion, ansonsten bleibt es ein harmloser halb klarer Satz. 

All dies ist aber nur eine Vorgeschichte. Meine eigentliche Geschichte beginnt bei einem Feedback-Training, das ich die Tage für höheres Regional-Management eines großen russischen Staatskonzerns durchgeführt habe. Die Erwartungsabfrage zu Beginn des Trainings klang ernüchternd: "Wie kann ich bei Feedback manipulieren?" "Wie kann ich meinem Mitarbeiter 'Nein' sagen ohne mit ihm zu polemisieren?" "Ich fühle mich wie eine 'strenge Lehrerin', was entsprechenden Widerstand meiner Mitarbeiter hervorruft. Aber ich weiß genau, dass ich absolut Recht habe. Wie kann ich ihnen meine Erfahrung auf eine elegantere Art und Weise vermitteln?" "Wie kann ich Feedback von einem 'toxischen' Mitarbeiter bekommen?" "Wie kann ich mit Feedback einen Mitarbeiter für seine schlechte Arbeit abkanzeln?" "Was mache ich, wenn es gar kein Feedback gibt und alles nach dem Prinzip abläuft 'Ich Chef - Du Dummkopf?'" - Ich denke mir nun meinen "high context" dazu und versuche mein bestes: psychologische Sicherheit, Fehler-Kultur, WWW-Prinzip, I-Messages trainieren... 

In der Pause fragt mich ein Teilnehmer, ob er mir ein Bild dazu schicken darf, das illustriert, wie Feedback in seinem Unternehmen funktioniert. - Und ich bekomme genau das Bild mit dem Koschtschei! Es stimmt tatsächlich: Auch die russische "Feedback-Kultur" bzw. viele Wesenszüge der Beziehung zwischen Führungskräften und Mitarbeitern kann man da gut hinein projizieren. Jetzt erst wird mir der wahre Grund der Popularität des Bildes in den russischen sozialen Medien voll bewusst (ich lebe halt doch schon zu lange in Deutschland). 

Einige Stunden später trinke ich Kaffee mit meiner russischen Trainer-Kollegin und erzähle von meinen Feedback-Erfahrungen mit den Russen. Über das Koschtschei-Bild und die Geschichte mit Feedback kann auch sie herzlich lachen, wir teilen den gleichen "high context". - Und plötzlich wird mir bewusst, wo ich diesen Hasen-Enten-Blick sonst gerade über alle Entfernungen spüren konnte: das war mein Methodik-Programm für chinesische Hochschuldozenten. In diesem Versuch, ihnen interaktive Unterrichtsmethoden beizubringen, hatte ich immer wieder das Gefühl, den Koschtschei mit seinen waghalsigen Ideen zu spielen. Nur war der "high context", den ich und meine 20 chinesische Teilnehmer sich jeweils mitgedacht haben, ein jeweils völlig anderer. Wie es sich im Laufe des Programms herausgestellt hat, habe ich eine Menge sehr "unchinesische" Sachen gemacht (allein schon die Kleingruppen neu aufzumischen! Und das jedes Mal!.. - aber dazu später mehr). Klar schauen die Chinesen ihre per Zoom zugeschaltete Trainerin wegen ihrer exotischen Vorhaben mit weniger offensichtlichen Mienen an als die beiden russischen Märchen-Tiere. Aber ich spüre es trotzdem. Und man weiß auch nie ohne eine "low context"-Übersetzung, welche Elemente ihres chinesischen "high contexts" vor ihrem inneren Auge gerade vorgehen, und wie die Nachricht gerade dechiffriert wird.  

Was lernen wir daraus? Wer den gleichen Kontext hat, kann gut zusammen lachen. Genau das rettet auch manch schwierige Trainingssituationen: Mein Feedback-Training mit den strengen russischen Führungskräften verlief übrigens nicht zuletzt dadurch sehr erfolgreich. Am Ende haben sich die Teilnehmer sogar bedankt für die spontan geschaffene "psychologische Sicherheit", die es ihnen ermöglicht hat, sich zu öffnen, tolle Rollenspiele miteinander zu gestalten und viel voneinander zu lernen. 

Interkulturelle Zusammenarbeit ergibt aber immer eine Kombination von zwei verschiedenen "high contexts", egal wo meine Kultur sich auf der Hall-Skala befindet. Und dann kann die Kommunikation genauso angespannt werden wie das Teammeeting von Koschtschei, dem Hasen und der Ente.

Hamburg, 19.07.2021