Am Donnerstag endete der zweite Durchgang einer Veranstaltung – diese habe ich für mich als "Schwimmkurs im Schlafsack" bezeichnet.
Ein Programm mit insgesamt sechs Modulen. Es soll chinesischen Hochschullehrern die Grundlagen "westlicher" interaktiven Techniken vermitteln. Gemeinsam mit dem Kunden haben wir es "Grundlagen der Erwachsenenbildung" getauft – und hatten damit auf eine unerwartete Art recht. Denn: Einige Teilnehmer erzählten bei der Abschlusspräsentation, dass Erwachsene wie Kinder unterrichtet werden können. Man gießt ihnen den Nektar des reinen, wahren Wissens einfach direkt in den Kopf hinein, tadelt sie für ihre gelegentliche Unaufmerksamkeit und hofft, dass das Wissen dort irgendwie von selbst keimt.
Andere Teilnehmer merkten an, dass es für die Kinder im Allgemeinen auch mal gut wäre, auf eine andere Art und Weise unterrichtet zu werden. Fazit: das, was man „Erwachsenenbildung“ nennt, hängt nicht nur vom Alter der Lernenden ab, sondern auch von der Position, die der Lehrende den Lernenden in der Beziehung zu sich einräumt.
Mir erschien das Programm von Anfang an als Mission Impossible. Und das lag nicht an den Chinesen. Alles echt fitte Leute, jung, intelligent und kreativ. Das Problem war das Format: Die insgesamt 20 Hochschullehrer sitzen in einem Raum an ihren kleinen runden Tischen, und ich bin mit ihnen per Zoom verbunden. In virtueller Begleitung einer Dolmetscherin, einer „Techi“ und einer Kollegin, die die Leute vor Ort in Shanghai dirigiert. Diese haben nun von mir an jeder Wand jeweils ein riesengroßes Zoom-Porträt. Ich sehe sie alle zusammen in einem Zoom-Fenster. Okay, zum Glück kann ich es etwas heranzoomen. Die unglückliche Konstellation des ersten Tages, wo alle Teilnehmer mit dem Rücken zu der einzigen Kamera, haben wir immerhin schnell gemeistert. Und zum Schluss haben alle begriffen, in welche Kamera sie schauen sollten, wenn sie mal das Mikro für einen Wortbeitrag ausgehändigt bekommen haben, damit die "deutsche Lehrerin" ihr Gesicht zu sich gewendet sieht.
So ein hybrides Format ist heutzutage zwar in, aber in dieser Situation war es ein echter Schlafsack (um ein anderes Wort als Zwangsjacke zu benutzen), in den die Trainerin und die Teilnehmer vor dem Schwimmunterricht eingekleidet und festgeschnürt wurden. Aber immerhin sind letztere in ihrem großen kollektiven chinesischen Schlafsack drin, in dem man immer schön herumtollen kann – sofern die Lehrerin es einem verordnet. Ich bin in meinem separaten Hamburger Schlafsack allein.
Das Programm habe ich bereits zum zweiten Mal durchgeführt. Mein Gefühl sagt dazu allerdings, ich hätte innerhalb von drei Wochen sechs halbtägige Module mehr oder weniger durchlitten. Bei der Programm-Premiere im Sommer hatte ich noch den Eindruck, dieses brandneue Konzept vielleicht nicht ganz zu Ende gedacht, etwas nicht gut genug erklärt, oder die Besonderheiten der Zielgruppe nicht genug berücksichtigt zu haben. Beim zweiten Mal war ich mir über all diese Fragen recht sicher. Und habe bei der Durchführung noch mehr gelitten. Mein Verstand sagte mir: Alles läuft gut! Das Gefühl war mangels direkter sprachlicher oder auch non-verbaler Rückmeldung aber immer wieder irritiert.
Als wir bei dem letzten Modul ankamen, sagte das Gefühl: OK, jetzt nur noch die Kleingruppen-Abschlusspräsentationen erleben. Der Verstand und die Erfahrung meinten dagegen: Es ist bestimmt einiges angekommen!
Und es stellte sich heraus, dass die Teilnehmer nicht nur alles aufgenommen, sondern auch perfekt reflektiert und kritische Schlüsse über den interaktiven Gott, die chinesische und westliche Welt und ihren eigenen Lehrstil gezogen haben. Richtig „wow!“ - ein wahres Vergnügen, auch für den Lehrenden. Und das Programm wurde (anonym) mit im Durchschnitt acht bis neun von zehn Punkten bewertet. Der Kunde hat bereits einen dritten Durchgang angekündigt.
Mir wurde am Schluss der Veranstaltung auch die Quelle meiner Bedenken und Zweifel offenbart. Es handelt sich um das, was im NLP allgemein als "Rapport" oder auch "Pacing" bezeichnet wird – die emotionale, prärationale Grund-Einstimmung auf den Anderen, die Basis jeder erfolgreichen Kommunikation. Oder anders gesagt, ich habe verstanden, was totale "Rapportlosigkeit" ist, die meine NLP-Lehrer für die Quelle allen Übels auf dieser Welt halten.
Denn: Wenn du nicht in der Lage bist, Gesichter zu sehen und ihre Mimik zu interpretieren, die non-verbale Stimmung in einer Gruppe wahrzunehmen, entsteht eben diese totale Rapportlosigkeit. Noch verstärkt durch die Pause zwischen dem Ende deiner Aussage und dem Moment, wo sie durch die konsekutive Übersetzung bei den Empfängern ankommt.
Erschwerend kommt dazu, dass die Chinesen (zumindest in diesem Lernkontext) nicht wirklich viel Wert darauf zu legen scheinen, eine kurze Meinung zwischendurch zu äußern oder auch mal eine Frage zu stellen. Irgendwie scheinen mir die Asiaten - wie auch wir in unserer sowjetischen Erziehung – darauf trainiert worden zu sein, in vollständigen Sätzen, besser gesagt: in Mini-Reden, zu antworten. Diese kannst du praktisch gleich in goldenen Buchstaben ins Marmorstein der Weisheit einmeißeln, und das meine ich nicht ironisch. Aber auf einen kurzen witzigen Satz, ein verzogenes Gesicht oder eine kurze Frage zwischendurch – darauf kann man lange hier warten.
Alles in allem war es für mich auch eine Lektion, was meine eigene Professionalität ausmacht. Natürlich eine durchdachte Konzeption und Vorbereitung. Natürlich eine sinnvoll aufgebaute Interaktivität. Aber auch die Fähigkeit, eine emotionale Verbindung mit der Gruppe aufzubauen und jene unsichtbare Substanz zu steuern, die in der Luft hängt und letztlich die Interaktion bestimmt. Oder zumindest mich danach zu richten, was meine eigene Intuition mir zu dem Gesamtgeschehen sagt.
Das Ergebnis ist unerwartet wie spannend: Die Rapportlosigkeit des eigenen Schlafsacks hat sich ganz offensichtlich nicht so schädlich auf den Lernprozess ausgewirkt wie befürchtet. Aber auch meine Trainer-Intuition hat von kulturell bedingten Kontexten gelernt und reagiert nicht immer verlässlich, wenn diese sich zu stark ändern.
Sofern man die Erwachsenenbildung interaktiv angeht, kann man sich aus dem Dilemma gut retten: Man hat zwar wenig Kontrolle über die Herausbildung neuer neuronaler Verbindungen in den Köpfen der Lernenden, aber gebildet werden sie trotzdem.
Der große Tenor der Abschlusspräsentationen war übrigens – Teamarbeit: wie viel Spaß sie gemacht hat und wie wichtig sie fürs Lernen offensichtlich ist. Der große chinesische Schlafsack hat ganz offensichtlich genügend internen Rapport entwickelt.
21.11.2021